«Ich träume von einem Jerusalem, wo alle ihren Platz haben»

Abt Nikodemus Schnabel aus Jerusalem spricht über das Leiden der Menschen im Heiligen Land

Abt Nikodemus Schnabel von der deutschsprachigen Abtei Dormitio in Jerusalem hielt sich anlässlich des Pilgersonntags des kirchlichen Hilfswerks «Kirche in Not» im Mai in Einsiedeln auf. Andreas Baumeister traf ihn zu einem Gespräch und redete mit ihm über die aktuelle Situation der Menschen im Heiligen Land.

Jacques Berset (links) und Andreas Baumeister (rechts) beim Interview mit Abt Nikodemus Schnabel in Einsiedeln.
Jacques Berset (links) und Andreas Baumeister (rechts) beim Interview mit Abt Nikodemus Schnabel in Einsiedeln.

 

Abt Nikodemus, wie erleben Sie die aktuelle Situation in Jerusalem angesichts des Gaza-Krieges? Abt Nikodemus Schnabel: Die Lage in Ostjerusalem ist katastrophal. Der Pilgertourismus ist völlig zusammengebrochen. Die Strassen in der Altstadt sind leergefegt.

Was ist mit Ihren Angestellten in der Dormitio? Die ersten Wochen nach dem Hamasüberfall am 7. Oktober konnten unsere Angestellten, die mehrheitlich aus Bethlehem kommen, nicht zu ihrem Wohnort zurückkehren, weil die Checkpoints dicht waren. Wir haben im Kloster alle leeren Zimmer für unsere etwa 30 Mitarbeitenden bereit gemacht und wie in einer grossen WG gelebt.

Und jetzt? Inzwischen können die Leute wieder nach Hause zurückkehren. Aber sie müssen am Abend immer rechtzeitig zurück sein, damit sie ihre Einreiseerlaubnis von Bethlehem nach Israel nicht verlieren.

Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation haben Sie niemanden entlassen? Wir entlassen niemanden von unseren Angestellten, weil wir diese Menschen und ihre Familien in die Armut entlassen würden. Das Kloster zahlt jeden Monat einen fünfstelligen Eurobetrag, obwohl wir fast keine Einnahmen haben.

Das Leid des Gaza-Kriegs ist auch bei Ihnen spürbar? Praktisch alle unsere Angestellten kennen jemanden, der vom Gaza-Krieg betroffen ist. In der Dormitio fühle ich mich wie auf einer Insel des Friedens, umgeben von einem Ozean aus Leid.

Sehen Sie denn einen Hoffnungsschimmer? Wir müssen rauskommen aus dem Teufelskreis des Hasses. Weg von Parolen wie «Israel nur für Jüdinnen und Juden» und «Palästina nur für Palästinenser­innen und Palästinenser.» Wir müssen Wege finden, dass Jüdinnen und Juden in Sicherheit und Palästinenserinnen und Palästinenser in Freiheit leben können.

Ihr Traum? Mein Traum: ein multireligiöses Jerusalem, wo alle Kinder Abrahams Platz haben: Juden, Christen und Muslime. Wir Mönche auf dem Zion versuchen schon heute diesen Traum zu leben und setzen uns dafür ein, dass die Dormitio ein solcher Ort ist: in Konzerten, in Gesprächsforen, in Kunstausstellungen.

Vielen Dank für das Gespräch, Abt Nikodemus.
Andreas Baumeister

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