Alte Menschen sind am verwundbarsten
In einem für den Schweizerischen Heiligland-Verein erstellten Armutsreport berichtet der Sozialdienst der Erzdiözese Bosra, Hauran und Jabal al-Arab in Südsyrien über die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Situation im Land. Insbesondere alte Menschen sind von dieser Krise betroffen. Wir dokumentieren einen Auszug.

Der Syrienkonflikt geht ins zehnte Jahr und wirkt sich weiterhin negativ auf die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche und soziale Lage im Land aus. Viele Menschen in unserer Diözese berichten, dass sie nicht in der Lage sind, ausreichend für ihre Familien zu sorgen. Sie versuchen zu überleben, indem sie beim Essen sparen, Wertsachen oder Grundstücke verkaufen oder Schulden anhäufen.
Corona-Pandemie treibt die Krise an
Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie hat die schwere Wirtschaftskrise mit einer dramatischen Abwertung des syrischen Pfunds, einer galoppierenden Inflation und Spitzenwerten bei der Arbeitslosigkeit und Armut noch weiter verschärft. Korruption, schlechte Regierungsführung und unzureichende finanzielle Mittel verunmöglichen jegliche Hilfe für die Schwächsten der Gesellschaft.
Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung lebt in Syrien unter der Armutsgrenze. Die UNO warnt in einem Bericht im Juni 2020 vor einer beispiellosen Nahrungsmittelkrise. Sie schätzt die Zahl der im kommenden Winter auf Hilfe angewiesenen Menschen auf drei Millionen. Vor dem Krieg waren traditionell Ehemänner oder Söhne die Haupternährer der Familien. Viele von ihnen wurden seither getötet, verletzt oder zur Flucht ins Ausland gezwungen.
Alte Menschen sind am verletzlichsten
Alte Menschen gehören zur verletzlichsten und am stärksten gefährdeten Gruppe in der syrischen Gesellschaft. Die Zahl der über 60-Jährigen wird auf 5,8 Prozent geschätzt. Ältere Menschen sind verletzlicher, weil die meisten von ihnen nicht fliehen können. Inzwischen sind rund eine Million Menschen wieder zurückgekehrt, doch noch immer leben sechs Millionen als intern Vertriebene in den verschiedenen Regionen des Landes. Fehlende Arbeitsmöglichkeiten und Einkünfte erschweren das Zurückkehren. Für den Wiederaufbau oder die Reparatur ihrer Häuser und Wohnungen fehlen die Mittel. Gleichwohl leben viele ältere Menschen wieder «zu Hause». Doch sie leben oft allein, fühlen sich isoliert, leiden unter dem Verlust von Beziehungen, von eingeschränkter Mobilität oder einem mangelhaften Zugang zur Grundversorgung.

All das verstärkt ihre Gefühle von Depression und Alleingelassensein. Von staatlicher Seite können sie keine Hilfe erwarten. Jeder vierte ältere Mensch hat nicht genug zu essen, wobei die Hälfte von ihnen mangelnde Einkünfte als Grund dafür angeben. Tatsächlich müssen sich viele alte Menschen Geld leihen, um über die Runden zu kommen. Früher haben sich sehr oft die Töchter oder Schwiegertöchter um die älteren Familienmitglieder gekümmert. Heute tragen viele der älteren Menschen, obwohl die überwiegende Mehrheit von ihnen auf fremde Hilfe angewiesen ist, Verantwortung für Enkel, für behinderte Kinder oder Familienangehörige.

Krankheit im Alter
Die meisten älteren Syrerinnen und Syrer leiden unter chronischen Erkrankungen. Die häufigsten sind: Bluthochdruck, Diabetes, Herzkrankheiten und in geringerem Umfang auch Arthritis, Verletzungen, Knochen- und Gelenkerkrankungen, Rückenschmerzen, Gehbehinderungen und Verlust der Sehkraft. Die Armutsbetroffenen sind auf medizinische Hilfe von Familienmitgliedern, lokalen Wohltätigkeitsorganisationen, Kirchen, Moscheen, von Freunden oder von Nachbarn angewiesen.
Die Auswirkungen von Krieg und Vertreibung haben einen verheerenden Einfluss auf das psychosoziale Wohl-befinden von alten Menschen, die ohne fremde Unterstützung ihre Lage nicht mehr bewältigen können und sich zunehmend allein gelassen fühlen.
Sozialdienst Bosra, Hauran und Jabal al-Arab
Spendenvermerk: Altersarmut in Syrien
Armut macht krank
Sechs Schicksale von alten Menschen aus Aleppo und Damaskus

Leïla ist 67 Jahre alt. Sie lebt allein in ihrem Haus in Al-Midan, das sie während des Krieges verlassen musste. Nach der Befreiung von Aleppo 2016 kehrte sie in ihr Haus zurück. Ihr Sohn verliess Syrien, um sein Studium im Ausland abzuschliessen. Ihre Tochter wurde Nonne in einem Kloster im Libanon. Leïla kämpft allein gegen die Widrigkeiten des Lebens. Sie leidet an Gicht und unter quälenden Knieschmerzen und kann sich kaum bewegen. Eine Knieoperation ist wegen der hohen OP-Kosten für sie nicht bezahlbar. Darüber hinaus ist sie an Diabetes erkrankt und hat Bluthochdruck.
Die meiste Zeit verbringt sie auf ihrem Balkon, um ihre Krankheit und den Stress des Alleinseins zu vergessen. Sie hat keinen Kontakt zu ihren Nachbarn. Nur ihr Neffe besucht sie gelegentlich. Einmal im Monat verlässt sie ihr Haus, um den Unterstützungsbeitrag entgegenzunehmen, den ihr der kirchliche Sozialdienst auszahlt und mit dem sie Medikamente und Lebensmittel kaufen kann. Leïla hat Angst davor allein zu sterben, und sie befürchtet, dass ihr Tod erst nach vielen Tagen entdeckt wird.

Kawkab ist 90 Jahre alt. Sie hat ihr ganzes Leben lang für ihre Familie gesorgt und hart gearbeitet, um für das Alter Geld anzusparen. Doch die Lebens-umstände haben sich gegen sie gewendet: Sie hat ihre Tochter und ihren Schwiegersohn während des Krieges verloren. Ihr Sohn hat sie verlassen, nachdem er sie um ihre Ersparnisse betrogen und ihr Haus auf seinen Namen umgeschrieben hatte. Heute lebt sie bei den beiden Töchtern ihrer verstorbenen Tochter. Kawkab leidet an einer Augenentzündung, unter Bluthochdruck und an Herzschwäche. Konnte sie sich früher noch Medikamente leisten, nimmt sie diese heute nur noch im Notfall.
Sie verbringt den ganzen Tag allein zu Hause, weil ihre Enkeltöchter wegen ihres Studiums und wegen ihrer Arbeit nicht zu Hause sein können. Kawkab möchte in ein Altersheim ziehen, damit sie ihren Enkelinnen nicht mehr zur Last fällt. Doch die Enkelinnen sorgen gut für ihre Grossmutter und beschweren sich nicht über ihre Anwesenheit. Kawkab erhält eine Witwenrente in Höhe von monatlich 18 000 syrischen Pfund, das sind etwa 75 Franken. Dieses Geld gibt sie ihrer älteren Enkelin für den Haushalt und für den Kauf von Medikamenten.

Marlène ist 70 Jahre alt. Sie lebt in Al-Hamidiye, einem Arbeiterviertel von Aleppo, das während des Krieges an das Rebellengebiet angrenzte. In dieser Zeit war ihr Balkon öfters dem Beschuss von Rebellengruppen ausgesetzt. Sie konnte ihr Haus fast nie verlassen, das wiederholt Granatfeuer ausgesetzt war und zum Teil zerstört wurde. Marlène verbringt ihren Tag mit Putzen und Aufräumen. Sie geht einmal pro Woche einkaufen und legt weite Strecken zurück, um Lebensmittel zu einem günstigen Preis kaufen zu können. Der Alltag ist für die alte Frau kräftezehrend. Sie leidet an Schilddrüsendysfunktion, Bluthochdruck, Diabetes und Asthma. Vor einem Jahr wurde sie an der Wirbelsäule operiert.
Zu all diesen Belastungen kommt dazu, dass sie für ihren 41-jährigen Sohn sorgen muss, der bei ihr zu Hause lebt. Ihr Sohn ist an Multipler Sklerose erkrankt und kann sich ohne fremde Hilfe nicht mehr bewegen. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters ist Marlène gezwungen, immer noch die Rolle der Mutter ein-zunehmen, sich um seine Pflege zu kümmern und ihm seine Medikamente
bereit zu machen. In dringenden Fällen bittet sie eine Freundin, sie in ein staatliches Krankenhaus zu begleiten, da die privaten Krankenhäuser für sie zu teuer sind. Sie hat keine Angst vor dem Tod, befürchtet aber, dass sich niemand um ihre Beerdigung kümmert, wenn sie gestorben ist.
Marlène ist auf die monatlichen Einnahmen aus der Vermietung eines kleinen Ladens ihres verstorbenen Ehemannes in Höhe von 25 000 syrischen Pfund, etwas über 100 Franken, angewiesen und auf die Unterstützung durch den kirchlichen Sozialdienst. Marlène betont, dass sie sich seit Beginn des Kriegs im Jahr 2011 keine neuen Kleider mehr gekauft hat. Aber sie ist dankbar dafür, dass sie zu Hause leben kann und dass sie jemanden hat, der sich im Notfall um sie und ihren Sohn kümmert.

Nezha ist 86 Jahre alt und Mutter von Milia und Samer. Samer leidet seit einem tätlichen Angriff vor 30 Jahren an Epilepsie und ist arbeitsunfähig. Ihre Tochter Milia arbeitet in einer Nähschule und verdient im Monat rund 30 Franken. Das Geld reicht jedoch nirgendwohin, sodass sie bei sich am Essen spart. Milia hat Angst, dass ihre Mutter oder ihr Bruder medizinische Hilfe benötigen könnten, denn sie haben beide keine Krankenversicherung.

Dunia ist 83 Jahre alt und Mutter von vier Kindern. Zwei Söhne sind im Bürgerkrieg gefallen. Ein Sohn lebt in den Niederlanden. Die Tochter ist in Syrien verheiratet. Dunia ist finanziell von ihrem Sohn, der in den Niederlanden arbeitet, abhängig. Er schickt ihr alle sechs Monate 300 Euro. Dieser Betrag reicht jedoch nicht aus, um die Miete für das Haus sowie Medikamente und einen möglichen Krankenhausaufenthalt zu bezahlen. Dunia leidet an einer Herzkrankheit, weshalb sie immer wieder medizinische Hilfe benötigt.

Najat ist 70 Jahre alt. Ihr Sohn ist als Soldat in der syrischen Armee im Bür-ger-krieg gefallen. Seit 20 Jahren ist sie verwitwet. Ihr Ehemann arbeitete als Taxifahrer. Sie bekommt keine Rente und lebt bei ihrer Schwester Samar, die sich um sie kümmert. Ohne die monatliche Unterstützung des kirchlichen Sozialdienstes käme sie nicht über die Runden und könnte sich keine Medikamente leisten.
Die Mitarbeitenden bei den kirchlichen Sozialdiensten sind Tag für Tag im Einsatz. Unermüdlich besuchen sie Familien und alleinstehende Frauen und Männer, hören zu, klären ab, helfen und organisieren. Vor allem für die älteren Menschen sind sie ein Lichtblick, denn sie bringen ihnen zurück, was in den langen Kriegsjahren gelitten hat: Anteilnahme und Nächstenliebe.
Jede Spende kommt diesen Sozialdiensten zugute. Danke für Ihre Unterstützung.
Spendenvermerk: Altersarmut Syrien