Den Übergang gestalten
Seit Oktober 2019 absolviert Rebecca Spittel ein Praktikum im Haus Gnade in Haifa, das sich für Männer einsetzt, die aus dem Gefängnis entlassen wurden und diese auf ein neues Leben in der Gesellschaft vorbereitet. In folgendem Bericht erzählt Rebecca von ihren Eindrücken, Erfahrungen und Begegnungen in diesem Projekt, das seit vielen Jahren vom Schweizerischen Heiligland-Verein unterstützt wird.
Die Bewohner vom Haus Gnade mit einer Mitarbeiterin auf der Treppe von der alten Kirche
In ihrer Zeit im Haus Gnade gelingt es vielen Männer, die gerade aus der Haft entlassen worden sind, eine Arbeit zu finden. Abends nach der Arbeit kommen sie dann zurück und jeden Tag setzen sich ein paar von ihnen auf Steinstufen vor der alten Kirche und sprechen über ihren Tag, machen Witze oder schweigen bei einem Becher arabischem Kaffee.
Ein Stück Normalität üben
Nach knapp zwei Monaten Arabisch-Sprachkurs kann ich viele von ihnen auf Arabisch begrüssen oder nach den Erlebnissen an ihrem Tag fragen. Ihre Taten, ihre Vergangenheit oder ihre jetzige Situation ist Thema in ihren Therapien und Gesprächen mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und der Workshops im Haus Gnade. Ihre Geschichten sind aber selten Thema in unseren Unterhaltungen und von vielen weiss ich nicht, warum genau sie im Gefängnis waren. Wenn ich mich zu ihnen auf die Treppe setze, sprechen wir über Fussball, über ihre Arbeit oder ihre Familie. Und manchmal meine ich ihnen anzusehen, wie sehr sie dieses Stück Normalität schätzen.
Mörder, Schläger, Diebe, Dealer, Junkies – solche Bezeichnungen begleiten Haftentlassene nach dem Ende ihrer Strafe ihr ganzes Leben lang. In der israelischen Gesellschaft und der konservativen arabischen Community ist das Stigma für Haftentlassene besonders hoch. Arbeits- und Wohnungssuche sind grosse Herausforderungen, genauso wie sich nach Jahren der Haft „draussen“ wieder zurechtzufinden. Ganz praktische Dinge müssen Haftentlassene neu lernen, ein Fahrkarte zu lösen, sich im öffentlichen Verkehr zu bewegen oder die moderne Technik zu nutzen.
Tareks Geschichte
Das erlebte auch Tarek, der nun nach 21 Jahren im Gefängnis und mehreren Monaten im Haus Gnade kurz vor dem Ende seiner Zeit dort steht. 18 Jahre war er alt, als er zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Aufgewachsen ist er mit 14 Geschwistern in einem kleinen, arabischen Dorf im Norden Israels. Mit 13 Jahren entschloss er sich gegen den Willen seines Vaters die Schule abzubrechen, um seine Familie mit seiner Arbeit finanziell zu unterstützen. Mit 17 Jahren zog er alleine in die nächstgrössere Stadt, Haifa, und arbeitete dort in einer Bäckerei. Mehrfach wurde er auf seiner täglichen Tour von einem Mann belästigt und angegangen, irgendwann griff Tarek zum Messer. Wegen Mordes wurde er zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt.
Zu Beginn war er oft in Isolationshaft. Erst nachdem er in ein anderes Gefängnis verlegt wurde, wurde es besser. Er hielt sich von Konflikten fern und begann eine Therapie. Mit 32 Jahren, nach 14 Jahren im Gefängnis, durfte Tarek aufgrund guten Verhaltens das Gefängnis das erste Mal für einige Tage verlassen. „Es war ein Schock für mich, zu sehen, wie sehr sich die Welt in dieser Zeit verändert hat“, meint Tarek heute. „Und es hat mich motiviert noch härter an mir zu arbeiten.“ Später wurde es Tarek erlaubt tagsüber ausserhalb des Gefängnisses zu arbeiten und nachdem er zwei Drittel seiner Gefängnisstrafe abgesessen hatte, bekam er das Angebot, den Rest seiner Strafe in einem Rehabilitationsprogramm abzuleisten. So kam er nach 21 Jahren Gefängnis zum Haus Gnade nach Haifa.
„Am Anfang war es sehr hart. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand versteht und ich musste mich erst an den neuen Lebensstil gewöhnen“, erzählt Tarek. Die Zeit nach dem Gefängnis ist für viele Haftentlassene schwierig. Haus Gnade begleitet diesen Übergang aus der Haft und möchte eine Reintegration in die Gesellschaft ermöglichen. Arbeit, Wohnung, Kontakt zu Familie und Freunden und persönliche Entwicklung sind entscheidend – auch um einen Rückfall zu verhindern. Trotzdem schafft es nicht jeder nach seiner Zeit im Haus Gnade auch „draussen“.
Respekt – ein Schlüssel für das Zusammenleben
Immer wieder taucht in meinen Gesprächen mit den Strafgefangenen, Mitarbeitenden, Ehemaligen und Gästen, das Wort „Respekt“ auf. „Im Haus Gnade wurde ich respektiert, von den Mitarbeitenden und meinen Mitbewohnern. Ich habe hier gelernt, andere zu akzeptieren und zu unterstützen. Mit anderen respektvoll umzugehen“, meint auch Tarek. Der Umgang mit Konflikten im Kleinen, im täglichen Miteinander, darum geht es auch bei gemeinsamen Projekten, Kochabenden und Workshops.
Das Haus Gnade schenkt Menschen eine zweite Chance, die aufgrund ihrer Taten und ihrer Vergangenheit von der Gesellschaft abgestempelt wurden und es steht allen offen. Da es das einzige Übergangshaus für Araber in Israel ist, sind die meisten der Strafgefangenen christliche oder muslimische Araber. Im Haus aber gehen Juden, Christen, Muslime, Araber und Drusen ein und aus. Wie besonders das ist, wurde mir im Laufe meines Praktikums und meiner Zeit in Israel immer mehr bewusst. Ich erlebe Israel als ein zutiefst gespaltenes Land. Selbst in Haifa, das oft als Beispiel für funktionierende Koexistenz aufgeführt wird, ist es meist eher ein Neben- statt ein Miteinander.
Ein Miteinander ist möglich
Am Schönsten waren für mich im Praktikum die vielen Begegnungen. Nicht immer waren es tiefe Gespräche. Oft Begrüssungen, Kaffee, kurze Konversationen. Manchmal sass ich mit den anderen schweigend auf der Steintreppe, habe nur zugehört, beobachtet oder mitgeschwiegen. Zu erleben wie die Herkunft, Religion oder soziale Gruppe in solchen Momenten an Bedeutung verliert, weckt in mir Hoffnung, dass Miteinander möglich ist.
Rebecca Spittel