Lusia Shammas blickt auf ihre Begegnungsreise in den Irak zurück

Letzten Herbst lancierten wir zusammen mit Lusia Shammas und ihrem Mann Naseem Asmaroo unsere Spendenkampagne «Im Fokus» für Menschen im Irak. Im Februar 2022 reisten sie zusammen mit einer siebenköpfigen Delegation nach Erbil, um vor Ort verschiedene Projektpartner ihres Hilfswerks Basmat-al-Qarib, die aus Bagdad angereist waren, zu treffen.

Lusia und Naseem trafen den katho­lischen Priester Meyassar Behnam, der in seiner Pfarrei in Bagdad Familien und Einzelpersonen unterstützt, die besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie leiden; ebenso Anwar Abada, die Leiterin von Beit Anya, einem offenem Haus für alleinstehende und armuts­betroffene Frauen in Bagdad, sowie Hanna Adwar, die Gründern der NGO Al-Amal. Im Gespräch mit unserer Zeitschrift blickt Lusia Shammas auf ihre Reise zurück.

 

Lusia Shammas (4. v. l.) trifft junge Aktivistinnen und Aktivisten der
Partnerorganisation Al-Amal in Erbil.

 

Lusia, was sind eure Eindrücke von dieser Reise? Wie leben die Menschen im Irak?
Lusia Shammas Die aktuelle Situation im Irak ist nach wie vor sehr schwierig und kompliziert. Der grosse Mangel an Dingen des täglichen Bedarfs und an Dienstleistungen führt zu einer Ver­armung grosser Bevölkerungsteile. Dazu kommt die Korruption, welche die öffentliche Verwaltung und die politischen Eliten durchzieht. Angehörige unterschiedlich ausgerichteter Milizen sind zu Drogenhändlern geworden, um ihre militärischen Aktivitäten zu finanzieren. Die Situation bleibt schwierig: wegen beschädigter Infrastrukturen, anhaltender Arbeitslosigkeit und geringer Sicherheit …

Siehst du auch positive Entwicklungen?
Ja, trotz dieser Situation organisieren sich zahlreiche humanitäre Organisationen und Vereine, um der Bevölkerung zu helfen und ein friedliches Zusammenleben der ethnisch und religiös unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Zukunft zu ermöglichen.

Kannst du ein Beispiel nennen?
Bei unseren Besuchen trafen wir viele Christinnen und Christen, die sich
für ihre muslimischen Freundinnen und Freunde engagieren. Sie helfen mit, die Wunden zu heilen, die durch die dschihadistische Besatzung entstanden sind. Diese seelischen Wunden sind tief und viele Frauen und Kinder erleben bis heute häusliche Gewalt, die durch die Pandemie noch verschärft wurde.

Welche Rolle spielen die Kirchen?
Die Kirchen sind wichtige Akteurinnen in der irakischen Gesellschaft. Sie helfen: beim Aufbau von zerstörten Häusern und sind Trägerinnen wichtiger Einrichtungen im Bildungs- und Gesundheitswesen.

Auf eure Reise habt ihr Bargeld aus unserer letztjährigen Spendenaktion «Im Fokus» mitgenommen.
Seit der Machtübernehme des IS in Teilen des Iraks im Juni 2014 sind bis heute Banküberweisungen aus der Schweiz und aus anderen europäischen Ländern blockiert. Heute leiden vor allem auch viele NGOs unter dieser Situation. Jedes Jahr müssen wir nach einer Möglichkeit suchen, Geld in den Irak zu transferieren. Glücklicherweise konnten wir bisher immer Menschen finden, die uns dabei halfen. Dieses Jahr konnten mein Mann und ich, Gott sei Dank, je 10 000 Franken einführen, um unsere Partnerprojekte zu unterstützen.

Was brauchen eure Partnerorganisationen am dringendsten?
Unsere Partner vor Ort brauchen nicht nur finanzielle, sondern auch morali­sche und spirituelle Unterstützung. Es ist nicht einfach für sie, in einem Land zu arbeiten, in dem die Korruption die ganze Gesellschaft erfasst hat. Sie brauchen vor allem auch unser Vertrauen.

Wie wirkte sich die Reise des Papstes in den Irak im März 2021 aus?
Der Besuch des Papstes war für alle Menschen im Irak ein besonderes Ereignis. Franziskus reiste in ein Land, das politisch, religiös und durch die Pandemie erschüttert war. Er hat sich auf den Weg in die Heimat Abrahams gemacht, des gemeinsamen Vaters von Juden, Christen und Muslimen. Damit ehrt er unsere Vorfahren und die Wiege unserer Zivilisation.

Hat die Reise auch konkret für die Bevöl­kerung etwas gebracht?
Franziskus hat die Menschen ermutigt und sie daran erinnert, dass in einer multikulturellen Gesellschaft jede und jeder etwas dazu beitragen kann, die Zukunft mitzugestalten. Verschiedenheit kann auch eine Chance sein.

 

Pater Meyassar (links) und Pater Albert (3. v. l.) von der römisch-katholischen Kirche
in Bagdad und Anwar (rechts), Leiterin vom Haus Beit Anya, mit Naseem Asmaroo (2. v. l.) und Lusia Shammas bei ihrem Treffen in Erbil.

 

Und über den Irak hinaus?
Der Besuch hat den Blick der interna­tionalen Medien auf ein Land gelenkt, das nach Beruhigung, aber auch nach geordneter Entwicklung strebt. Auch wenn die Sicherheitsrisiken und die Gesundheitslage Stolpersteine darstellen, erinnerte Franziskus die Welt an die reiche Zivilisation und die Armut eines durch viele Jahre Krieg geschundenen Volkes.

Was bedeutet der Besuch für das Ver­hältnis von Islam und Christentum?
Während unseres Besuchs im Irak stellten wir fest, dass sich der Blick der Muslime auf die christliche Minderheit zu ändern beginnt. Der Besuch des Papstes vor einem Jahr war ein Hoffnungsschimmer, auch wenn in manchen christlichen Gemeinden immer noch eine gewisse Angst besteht. Ich war überrascht. Das Licht und die Impulse der Geschwisterlichkeit unseres Papstes haben bei Imamen und anderen muslimischen Persönlichkeiten Spuren hinterlassen.
Das Bild des Papstes, der sich mit dem Schiitenführer Ali al-Sistani trifft und mit ihm Tee trinkt, hatte eine grosse Wirkung auf die Wahrnehmung des Christentums und der Muslime vor Ort. Für viele Fanatiker sind Christen Ungläubige und Unreine. Vielen muslimischen Menschen wurde dadurch bewusst, dass sie ihre Vorurteile ändern müssen.

Kannst du eine konkrete Geschichte erzählen, ein Ereignis, das du auf eurer Reise erlebt hast, bei dem du das Gefühl hattest, dass diese Reise wichtig war?
Das Treffen mit Anwar, der Leiterin von Beit Anya; ein offenes Haus für alleinstehende, behinderte und verlassene Frauen und Männer in Bagdad, hat mich sehr beeindruckt. Anwar erzählte uns, dass Beit Anya eine sehr alte Frau aufnehmen konnte, die von ihrer Familie auf die Strasse gesetzt worden war. Zu Ostern wollte diese Muslima unbedingt an der Messe mit den christlichen Bewohnern teilnehmen. Nach dem Gottesdienst fragte sie einer von ihnen: «Glauben Sie an die Auferstehung»? Die Muslima antwortete: «Ja, ja, Christus ist auferstanden. Ich selbst war tot, lag auf der Strasse, und mir wurde ein neues Leben geschenkt. Der Gott Anwars, die mich aufgenommen hat, lässt niemanden im Tod zurück.»

Vielen Dank, Lusia, für dieses interessante Gespräch.

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