Gegen Verdrängen und Vergessen
Zwischen Martyrium und Exodus – der Untertitel dieses höchst lesenswerten Standardwerks macht die dramatische Geschichte der Christen im Nahen Osten im 20. Jahrhundert sichtbar. Das Buch des deutschen Nahostkenners Matthias Vogt will – und kann – durch die Vermittlung fundierten Hintergrundwissens die Verbundenheit und Solidarität mit unseren Glaubensgeschwistern fördern und vertiefen.
Über die – unbestritten ebenso tragische wie bedrohliche – aktuelle Situation der christlichen Minderheiten in den Ländern des Nahen Ostens ist in unseren Medien wenig zu lesen, zu hören, zu sehen. Und wenn über sie berichtet wird, dann aus – meist traurigem – «tagesaktuellem Anlass»: Attentate, Vertreibung, Verfolgung, Auswanderung, Benachteiligung. Auch wird das gegenwärtige Geschehen kaum eingeordnet in grössere politische, soziale, regionale und globale geschichtliche Zusammenhänge.
Was die oberflächliche Kurzatmigkeit unserer Medien nicht leisten kann, bietet das über 500-seitige Buch «Christen im Nahen Osten», das 2019 in der deutschen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (wbg) erschienen ist. In anspruchsvoller Detailliertheit beschreibt das Buch «den Weg der Christen zwischen Integration, gesellschaftlicher Teilhabe, Abgrenzung und Auswanderung sowie die Herausforderungen, vor denen sie heute stehen» (Klappentext). Nach einer kurzen Einführung und einem Überblick über die Entwicklungen im 19. Jahrhundert stehen die Ereignisse im 20. Jahrhundert in den einzelnen Ländern im Fokus. Neben den «klassischen» Ländern des Nahen Ostens, Libanon, Syrien, Jordanien, Israel, Palästina und Ägypten wird auch die jüngste Geschichte der Christen im Irak, in Iran und in der Türkei ausgeleuchtet.
Der Autor dieses besonderen Buches, Dr. Matthias Vogt, ist ein profunder Kenner des Nahen Ostens, insbesondere der christlichen Kirchen und Gemeinschaften im «Heiligen Land»: Der 49-jährige Deutsche ist studierter Islamwissenschaftler und war 15 Jahre beim Internationalen Katholischen Missionswerk «Missio» tätig, wo er auch als Länderreferent für den Nahen Osten und Nordafrika zuständig war. Seit 2020 arbeitet er beim Deutschen Verein vom Heiligen Lande (DVHL) als Generalsekretär und seit 2021 auch als Geschäftsführer der DVHL Heilig-Land-Reisen GmbH. Vogt hat die Region zwischen der Türkei und dem südlichen Ägypten oft bereist und kennt viele Repräsentanten und Verantwortliche der verschiedenen christlichen Denominationen persönlich. Für das vorliegende «Übersichtswerk» hat er aber vor allem grossartige geschichtswissenschaftliche Geduldsarbeit geleistet.
«Wenn es im Orient keine Christen mehr gibt», schreibt der chaldäische Patriarch Louis Raphaël Sako in seinem Vorwort, «wird das Christentum seiner Wurzeln beraubt sein.» Damit es nicht so weit kommt, brauchen die Christinnen und Christen in den Ursprungsländern des Christentums, so der Kardinal aus dem Irak an die Adresse der Gläubigen im Westen, «eure menschliche und spirituelle Unterstützung sowie eure Solidarität, Freundschaft und Nähe». Die sorgfältige Lektüre dieses Buches kann Ausdruck dieser freundschaftlich-geschwisterlichen Verbundenheit und Grundlage unserer konkreten Solidarität sein.
Boris Schlüssel